Mittwoch, 4. Mai 2011

12. APRIL 2011, S 6, BERLIN

WER: F, Anfang dreißig
WAS: Deutscher Ethikrat, Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen - Zur normativen Funktion ihrer Bewertung. Stellungnahmen.
WO: S 6, Berlin

VON WANN: D, 2011
VON WEM: D, Deutscher Ethikrat



WAS SAGT DER VERLAG:

1 Einleitung: Anlass, Inhalt und Grenzen der Stellungnahme
In zahlreichen Staaten finden derzeit Debatten über die Gren- zen der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens statt. In Deutschland steckt die Diskussion vergleichsweise „in den Kinderschuhen“ und wird noch nicht mit der hinreichenden Intensität und Konsequenz geführt. Sie wird jedoch in dem Maße unumgänglicher, wie bereits knappheitsbedingte Unterversorgung stattfindet. In Deutschland, das weltweit über eines der leistungsfähigsten Gesundheitssysteme verfügt, halten sich solche Phänomene noch in Grenzen: Niemand, so lässt sich wohl mit Fug und Recht behaupten, muss auf die notwendige Behandlung einer gravierenden Krankheit verzichten. Dennoch mehren sich die Anzeichen für Qualitätseinbußen aus Gründen relativer Mittelknappheit in Bereichen der medizinischen Versorgung, aber auch in der ambulanten wie der stationären Pflege. Stichworte wie Wartelisten, Verzicht auf die Verschreibung für notwendig gehaltener Medikamente, Reduktion von Therapien zum Beispiel in der Rehabilitationsmedizin sowie nur noch „zweitbeste“ Medikamente illustrieren dies. Intensive Diskussionen über den Umfang des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sind ein weiteres Indiz dieser Entwicklung. Dies macht es unabweisbar, vorausschauend die Grenzen einer solidarischen Finanzierung von Gesundheitsleistungen zu diskutieren.

Anders als es auf den ersten Blick erscheinen könnte, bedarf die Erörterung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens nicht nur des medizinischen und ökonomischen Sachverstands, sondern auch der rechtlichen und ethischen Reflexion. Wenn es nicht mehr möglich sein sollte, ein umfassendes medizini- sches Versorgungssystem zu finanzieren, in dem jeder Bürger1 jedwede medizinisch sinnvolle Leistung in Anspruch nehmen kann, muss über legitime Ansprüche und faire Verteilung, also letztlich über soziale Gerechtigkeit in Fragen der Gesundheitsversorgung diskutiert werden. Es geht um das Ausmaß moralisch gebotener und grundrechtlich zugesicherter Ansprüche.

Bei Mittelknappheiten wird oft versucht, diesen mit dem Instrument der Effizienzsteigerung zu begegnen. Für den Bereich der Medizin hat die Gesundheitsökonomie international Standards der Kosten-Nutzen-Bewertung entwickelt, die nicht unumstritten sind. In Deutschland ist das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) seit 2007 per Gesetz beauftragt, auf der Grundlage international aner- kannter Standards Kosten-Nutzen-Bewertungen zu erstellen. Diese sollen dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), der für die Bestimmung des Umfangs der Leistungen in der GKV verantwortlich ist, als Empfehlungen dienen. Ob und wie derartige Bewertungen vorgenommen und gesundheitspolitisch umgesetzt werden sollten, ist aber keine wertfreie wirtschaftswissenschaftliche Entscheidung, sondern hat bedeutsame rechtliche und ethische Implikationen, insbesondere weil damit auch die Beschränkung medizinisch notwendiger Leistungen einhergehen kann. Die Bewertungen sind ökonomisch angelegt, in ihren Kalkülen und Modellen aber weit davon entfernt, politisch oder ethisch neutral zu sein. Ihre Umsetzung wirft weitreichende Fragen der Gerechtigkeit auf, die es zu bedenken gilt.

Anlass der Stellungnahme sind, über die drohende Mittelknappheit hinaus, konkrete Defizite in der aktuellen öffentlichen Debatte, insbesondere die Zurückhaltung der Politik, das Rationierungsthema als zumindest langfristig ernst zu nehmendes Thema anzuerkennen. Der Deutsche Ethikrat konzentriert sich mit der hier vorgelegten Stellungnahme auf die normativen Probleme von Nutzen-, Kosten- und Kosten-Nutzen-Bewertungen und will damit anlässlich einer aktuellen gesetzgeberischen Debatte dazu beitragen, die schwierigen und unumgänglichen Fragen medizinischer Verteilungsgerechtigkeit am Beispiel der ethisch umstrittenen Funktion von gesundheitsökonomischen Bewertungsmethoden in den Blick von Politik und Öffentlichkeit zu bringen. Mit dieser Fokussierung verzichtet der Deutsche Ethikrat an dieser Stelle darauf, andere relevante Problembereiche der solidarischen Finanzierung der Gesundheitsversorgung aufzugreifen, die zweifellos ebenfalls von großer Bedeutung sind.

Innovative Arzneimittel sind erfahrungsgemäß sehr teuer. Deshalb richtet sich der Blick auch in der internationalen Diskussion vor allem darauf, welches Einsparpotenzial durch wel- che Mechanismen an dieser Stelle möglich ist. Ein Instrument stellt die Bewertung des Nutzens und des Kosten-Nutzen-Verhältnisses von Arzneimitteln dar. Auf den ersten Blick ist es in der Tat höchst plausibel, Arzneimittel, die nur einen geringen Zusatznutzen oder jedenfalls einen im Verhältnis zu den Kosten zu geringen Zusatznutzen aufweisen, nicht im solidarisch finanzierten Gesundheitssystem zur Verfügung zu stellen; zumindest liegt es nahe, ihren Preis auf eine „angemessene“ Höhe zu begrenzen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass eine Nutzen- und auch eine Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln grundlegende ethische Fragen aufwerfen. Diese nicht auf den ersten Blick sichtbaren Probleme aufzude- cken, weil sie zugleich auch andere Maßnahmen der Kostendämpfung im Gesundheitswesen betreffen, sieht der Deutsche Ethikrat als dringend notwendig an. Die Fokussierung der Stellungnahme auf die Bewertung von Nutzen und Kosten von Arzneimitteln im solidarisch finanzierten Gesundheitssystem erfolgt damit paradigmatisch für ein grundlegendes Problem, das sich zum einen auf die ethischen und rechtlichen Implikationen der verwendeten Methoden für die Bewertung von Nutzen und Kosten bezieht und zum anderen auf die daran anknüpfenden gerechtigkeitsrelevanten Verteilungsfragen unter Knappheitsbedingungen.

Diese unbequeme Thematik offen zu diskutieren, ist, so die Auffassung des Rates, allemal besser, als verdeckte und damit intransparente Leistungsbegrenzungen auf unterschiedlichen Ebenen des Gesundheitssystems zu akzeptieren. Und wenn denn eine Institution mit der Festlegung des Leistungsumfangs beauftragt wird, so sollten die bedeutsamen sozialethischen Implikationen der dazu verwendeten Methoden dieses Auftrags transparent sein. Dabei sollte insbesondere die Frage geklärt werden, inwieweit ökonomisches Denken in seiner Ausrichtung auf maximale Wertproduktion mit den individualrechtlichen Grundlagen unseres Rechtssystems und der öffentlichen Gesundheitsversorgung kompatibel ist.
1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf eine geschlechterspezifische Differenzierung verzichtet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung für beide Geschlechter.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen